„Wir müssen den Mythos begraben, diese Abkommen wären für uns alle gut“
Die britische Regierung führte schon vor dem formalen Brexit Gespräche mit potentiellen Handelspartnern: Nachdem man die als restriktiv empfundenen EU-Standards hinter sich gelassen hatte, sollte der Fokus nun auf der Deregulierung der Märkte liegen. Was hinter verschlossenen Türen verhandelt wurde und welche Gefahren ein Freihandelsabkommen mit den USA birgt, deckt Nick Dearden in seinem neuen Buch auf.
Worum geht es in „Trade Secrets“ und warum erscheint es gerade jetzt? Was sind die „Geheimnisse“?
Unsere Regierung ist entschlossen, Großbritannien auf Talfahrt zu schicken. Dafür bewegt sie sich einerseits von Europa weg – stellt dabei die EU absurderweise als eine Art wirtschaftspolitische Sowjetunion dar – und wendet sich andererseits den USA zu, wo das Big Business den Ton angibt. Darum ging es auch vielen führenden Brexit-Befürworter*innen, nämlich um die Schaffung eines stärker deregulierten, liberaleren Großbritanniens.
Ein Hauptinstrument dafür sind umfassende Handelsabkommen, die in sehr viele gesellschaftliche Felder hineinreichen. Im Grunde sind sie wie Freibriefe für die Wirtschafts- und Finanzwelt. Die staatliche Regulierung wird erschwert, während die Bewegung des Kapitals erleichtert wird. Bei Handelsabkommen geht es heute also weniger um Zölle als um das System der Handelsregulierung. Sie drehen sich um die Kontrolle und Einschränkung staatlicher Befugnisse hinsichtlich Nahrungsmittelstandards, öffentlicher Dienste, Medikamentenpreise und der Datennutzung durch Unternehmen. Das sind gewaltige Abkommen. Sie werden zwar viel weniger aufmerksam geprüft als normale Gesetze – in Großbritannien werden sie heimlich abgewickelt –, aber sie werden wie internationales Recht behandelt, was unglaublich gefährlich ist.
Mein oberstes Ziel ist es, die Leute davor zu warnen. Wenn wir uns dem nicht schicksalhaft ergeben wollen, müssen wir diesen Abkommen den Kampf ansagen, vor allem dem mit den USA.
Darüber hinaus geht es mir um ein größeres Argument, das hoffentlich auch außerhalb Großbritanniens Resonanz finden wird. Handelsvereinbarungen sind die treibende Kraft gewesen, unsere Welt in einen gigantischen Markt zu verwandeln, in dem alles, woran uns etwas liegt, als Hindernis gegenüber dem Marktwillen aufgefasst wird. Die politische Mitte und auch die linke Mitte – Labour, SPD und US-Demokraten – haben sich diesem Modell in den 1990er Jahren unterworfen, das zu tiefen Verwerfungen im Leben der Menschen geführt hat, zu Massenarbeitslosigkeit, Ungleichheit und einem möglicherweise zerstörerischen Ausmaß an CO2-Emissionen. Ist es also verwunderlich, dass wir heute in so einer Misere stecken?
Wenn wir da rauskommen wollen, müssen wir den Mythos begraben, diese Abkommen wären für uns alle gut. Wir müssen das Regelwerk der internationalen Wirtschaft grundlegend überarbeiten, vor allem mit Blick auf den Handel.
Sie schreiben über gute regulatorische Praxis und Kooperation. In dem Zusammenhang habene Sie vor kurzem bei einer Diskussion die Nachhaltigkeitsfolgenabschätzung erwähnt. Was hat es auf sich mit diesen Begriffen und Formen der Regulierung? Heißt das, es gibt gute und schlechte Handelsabkommen?
Regulatorische Kooperation und Harmonisierung klingen zunächst einmal gut. In Handelsvereinbarungen haben diese Begriffe aber eine sehr spezielle Bedeutung, die weniger schön ist. Für das Personal in Regulierungsbehörden ist es natürlich hilfreich, voneinander lernen und Best-Practice-Beispiele übernehmen zu können. Bei Handelsabkommen meint regulatorische Kooperation aber etwas anderes. Im Grunde heißt es: Regulierung hemmt den freien Waren- und Kapitalverkehr weltweit, was schlecht ist, also müssen wir sie abbauen. So wettert das US-Agrobusiness gegen die Nahrungsmittelstandards der EU (und derzeit noch Großbritanniens), da die Tierwohlstandards hier deutlich höher sind und der routinemäßige Einsatz von gefährlichen Chemikalien, GVOs (genetisch veränderten Organismen), Antibiotika, Chlor usw. nicht wie in den USA erlaubt ist. Die Agrarindustrie sieht in all dem nicht etwa demokratische Entscheidungen darüber, wie wir unser Nahrungssystem regulieren wollen, sondern lediglich protektionistische Handelsbarrieren, die es abzuschaffen gilt.
Und das ist kein einmaliger Vorgang. Bei der regulatorischen Kooperation werden Abläufe festgelegt, die die Regulierungsbehörden dazu zwingen, vor der Lobby des Big Business im jeweiligen Partnerland einzuknicken. Die Unternehmen können dann gegen jegliche Form von Regulierung vorgehen, die nicht nachweislich eine „erforderliche Mindestmaßnahme“ zur Erreichung eines bestimmten Ziels ist. Sie können alles anfechten, was sie als „Diskriminierung“ (ein im Handelsjargon sehr weit gefasster Begriff) betrachten. Den Lobbyist*innen des Big Business stehen alle Türen offen, um die Verantwortlichen auch außerhalb normaler demokratischer Prozesse zu bedrängen und zu beeinflussen. So verfassen sie unsere Standards ganz unmittelbar mit.
Die Handelsabkommen bewirken also eine Abwärtsspirale, die unsere über Jahre und Jahrzehnte erkämpften Standards und Schutzmechanismen erodieren lässt.
Sehr interessant an Ihrem Buch fand ich die Beobachtung, dass Großbritannien gleichzeitig mit der EU und den USA verhandelt, aber jeweils eine ganz unterschiedliche Sprache und Strategie nutzt, was auch sehr bezeichnend für Johnsons Haltung gegenüber der EU und seine „Solidarität“ mit autoritär-populistischen Führungsfiguren ist. Können Sie etwas zum aktuellen Stand der Verhandlungen sagen und dazu, woran Sie den sprachlichen Unterschied festmachen?
Ein Alien zu Besuch auf der Erde würde sich angesichts der Rhetorik von Boris Johnson wohl fragen: „Warum führt ihr all diese Handelsgespräche überhaupt, wenn ihr eine solche Abneigung gegen euren Verhandlungspartner habt?“ Bei der Antrittsrede des Brexit-Unterhändlers – in der er die EU für so ungefähr alles verantwortlich machte, was seit der Französischen Revolution schiefgelaufen ist – fiel einem glatt die Kinnlade herunter. Der US-Regierung allerdings, die (zum Zeitpunkt des Interviews – W.B.) von einem offensichtlich reaktionären und autoritären Tyrannen angeführt wird, rollt Johnson den roten Teppich aus. Dieses Handelsabkommen scheinen sie also wirklich zu wollen.
Und das hat auch einen Grund. Moderne Handelsabkommen drehen sich vor allem um Regulierungsfragen, und bekanntlich will die britische Regierung hier dem Beispiel der USA folgen. Daraus macht sie keinen Hehl: Johnson warb offen für „wissenschaftliche Nahrungsmittelstandards“ – was im Handelsjargon „mehr GVOs und Chemikalien“ heißt –, und seine Regierung sprach sich gegen die „grässlichen“ EU-Online-Sicherheitsstandards und die Datenschutzgrundverordnung DSGVO aus, aber für einen von Konzernen kontrollierten, freien Datenverkehr. So gesehen bedarf Großbritannien allenfalls eines sehr spärlichen Abkommens mit der EU, doch eines sehr soliden Deals mit den USA. Die wirtschaftlichen Auswirkungen werden enorm sein, doch Johnson will das Schockprogramm mit spärlichem EU-Abkommen und solidem US-Abkommen, um die britische Wirtschaft neu zu justieren.
Ein Kapitel beginnen Sie mit einem Zitat von Donald Trump: „Schauen Sie, bei einem Handelsdeal geht es um alles. Wenn es um den Handel geht, geht es um alles. Ob nun um NHS (britischer Gesundheitsdienst – W.B.) oder irgendwas anderes oder noch viel mehr als das, alles liegt auf dem Verhandlungstisch, hundertprozentig.“ Welche Teile des Abkommens sind am gefährlichsten für Wirtschaft, Gesellschaft und Politik – besonders mit Blick auf öffentlichen Dienst oder Arbeitsrechte?
Eine Aktivistin aus den USA – ich zitiere sie auch in meinem Buch – erklärte mir, dass es nicht per se darum gehe, dass wir mehr US-Waren importieren, sondern vielmehr das amerikanische Wirtschaftssystem als solches zu übernehmen. Bei allen Handelsabkommen geht es heutzutage um Deregulierung, um die Liberalisierung des Konzernwesens. Auch bei den EU-Vereinbarungen ist das so. Aber im Fall der USA riskieren wir sehr viel für ein umfassendes Abkommen mit einem Land, das deutlich stärker marktgesteuert ist als unser Land. Und ja, das ist beunruhigend. Trump goss natürlich zusätzliches Öl ins Feuer – wahrscheinlich stehen alle US-Präsidenten für die Interessen der großen Unternehmen und Pharmaindustrie, aber hier ist ein Typ, der glaubt, er gewinne nur, wenn du verlierst. Also ein Nullsummenspiel. Für ihn ist das wirklich ein Ego-Ding, genau das Abkommen zu bekommen, von dem die US-Wirtschaft profitiert. Egal, ob das für uns nun heißt, das öffentliche Gesundheitssystem auszuhöhlen, die Preise für Medikamente zu erhöhen, Ernährungsstandards zu verschlechtern oder unsere Fähigkeit einzuschränken, die großen Tech-Konzerne wie Amazon, Google usw. zu besteuern und zu regulieren. Immer wieder wurde uns gesagt, „es wird keinen Deal geben, solange sich in diesen Bereichen nichts tut“.
Wisst ihr, worum es Trump bei diesem Abkommen wirklich geht? Sein Blick auf die Welt ist geleitet von der Frage, „wo liegt die Konkurrenz und wie kann ich sie schwächen?“ Er will China schwächen, das ist klar, aber auch die EU will er schwächen. Sie sind seine Konkurrenten. Darum feiert Trump auch den Brexit. Für ihn ist er Gelegenheit, Europa wirklichen Schaden zuzufügen. Das zeigen die geleakten Dokumente aus den Handelsgesprächen. Die US-Vertreter*innen waren da sehr deutlich – wir wollen den harten Brexit, alles andere macht für uns keinen Sinn.
Welche Rolle spielen die US-Präsidentschaftswahlen im November hinsichtlich der Verhandlungen über den Handelsdeal und der Beziehungen zwischen Großbritannien, USA und EU?
Ich denke, da gibt es zwei Aspekte. Es ist noch zu früh, um etwas über die Inhalte eines möglichen US-Deals zu sagen. Der Demokrat Biden ist kein Linker, und das fürchterliche TTIP-Abkommen geht natürlich auf Obamas Konto. Im Grunde vertritt jeder US-Präsident die Interessen der amerikanischen Industrie. Da besteht also weiterhin Gefahr. Es wurde zwar berichtet, dass Biden die Berater*innen des links stehenden Demokraten Bernie Sanders bezüglich wirtschaftspolitischer Fragen konsultiert hat, aber ob das einen Unterschied gemacht hat? Wir können es nur hoffen.
Positiv ist, dass Biden Johnson wohl weniger Vertrauen schenken wird. Den Brexit sieht er eher als Hindernis, Priorität hat ein besseres Verhältnis zur EU. Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass er großes Interesse hat, reihenweise Handelsvereinbarungen abzuschließen, die – wie diese – für die USA nur eine kleine Rolle spielen. Das könnte natürlich Johnsons Plänen sehr zuwiderlaufen. Angeblich bemüht sich Johnson verzweifelt um engeren Kontakt zu Bidens Team. Ich glaube nicht, dass er da viel Erfolg haben wird. Das könnte ihn unter Druck setzen und vielleicht werden wir dann sehen, wie er sich aus lauter Verzweiflung wieder mehr auf die EU zubewegt. In dieser, und auch in vieler anderer Hinsicht ist Bidens Sieg eine gute Nachricht für uns.
Bei den britischen Wahlen 2019 verkündete Labour, dass man Teile des Energie- und Wassersektors wieder in öffentlichen Besitz überführen werde. Der damalige Parteichef Jeremy Corbyn prangerte Boris Johnson auf der Grundlage geleakter Dokumente wegen des bevorstehenden Ausverkaufs des NHS an. Welche Position vertritt Labour dazu jetzt – fast ein Jahr später und unter neuer Führung?
Die neue Labour-Führung ist weiterhin gegen den Handelsdeal mit den USA, was begrüßenswert, aber auch ziemlich einfach für sie ist. Trump ist unter britischen Wähler*innen sehr unbeliebt. Aber würden sie einen ganz ähnlichen Deal mit Biden ablehnen? Das ist nicht so klar. Und lehnen sie die Grundausrichtung dieser Handelsregeln ab, die auf stetig erweiterte Liberalisierung und auf Wachstum zielen? Und die den Menschen so viele Sicherheiten genommen und sie auf Gedeih und Verderb dem Markt ausgeliefert haben?
Wenn man so tut, als ob einige der wichtigsten gesellschaftlichen Entscheidungen dem Markt überlassen werden könnten, schrieb Karl Polanyi während des Zweiten Weltkriegs, dann wird eine Gegenbewegung entstehen. Wenn eine linke Bewegung Sicherheit, Hoffnung und Veränderung bieten würde, die Leute würden es fraglos begrüßen. Doch wenn es die Rechtsextremen sind, die das scheinbar anbieten, dann werden sie stattdessen ihnen in die Arme laufen. Die Logik „der Markt wird es schon richten“, die den modernen Handelsregeln zugrunde liegt, ist nicht tragfähig, und sowohl die politische Mitte als auch Linke müssen sich das eingestehen. Dieses System fällt gerade zusammen. Wird dieser Kollaps zu einer stärker demokratischen und egalitären internationalen Wirtschaft führen oder zu einer autoritären Form von Politik, die auf Tyrannei, Konflikten und Kriegen beruht? Es liegt an der Linken, entschieden an Ersterem zu arbeiten, wenn wir Letzteres nicht wollen.
Was wäre die Alternative? Was sollte die Linke, tun, um diese Entwicklung zu stoppen? Und welche konstruktiven Maßnahmen sollten wir ergreifen?
Am Ende meines Buches schlage ich einige sehr grundlegende Ansätze und Prinzipien dafür vor, wie eine dringend benötigte Alternative aussehen könnte. Drei Aspekte sind dabei zentral. Der erste besagt, dass Handel nicht per se schlecht ist – die Handelsregeln sind das Entscheidende. In unseren heutigen Regelwerken ist grenzenlose Liberalisierung zum Selbstzweck geworden. Das ist absurd.
Handel ist nie ein Selbstzweck. Er kann großen gesellschaftlichen Reichtum hervorbringen, aber damit wir in den Genuss davon kommen, müssen ihn Regierungen kontrollieren können, sie müssen Investoren und Konzerne besteuern und regulieren können. Wichtige Gesellschaftsbereiche – Gesundheit, Bildung, vermutlich auch Energie usw. – müssen komplett aus dem Markt herausgehalten werden. Dafür sind sie einfach zu bedeutend. Ansonsten wird zwar fraglos Wohlstand geschaffen, aber alles konzentriert sich ganz oben. Das ist die Lehre aus dem Neoliberalismus.
Beim zweiten Aspekt geht es darum, wie Handelsregeln die Welt weiterhin in Zentrum und Peripherie unterteilen, wie auch die Vertreter*innen der Dependenztheorie schon in den 1960er Jahren schrieben. Das Problem ist nicht, dass Afrika und Südamerika nicht ausreichend in das Handelssystem integriert sind, sondern nicht in der richtigen Weise. Vor allem braucht es dort einen Regionalhandel, der mit den neokolonialen Verhältnissen bricht.
Der dritte Aspekt dreht sich um das allergrößte Menschheitsproblem, den Klimawandel. Ein Handelssystem basierend auf endloser Produktion und weltweitem Transport der Produkte führt in die Katastrophe. Ich will damit nicht sagen, jedes Dorf auf der Welt sollte alles, was es braucht, selbst produzieren. Aber wir können uns auch nicht vormachen, dass andere, vor allem ärmere Menschen, alles, was wir brauchen, immer weiter produzieren können. Das wird den Planeten zerstören. Wir müssen noch viel daran arbeiten, wie die einzelnen Schritte aussehen sollen, aber in einigen Regionen braucht es eine gewissen Grad an Deglobalisierung (und in anderen vielleicht engere Kooperation und Integration), soviel steht fest.
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*Nick Dearden ist der Direktor von „Global Justice Now“, politischer Analyst und Aktivist in der Antiglobalisierungsbewegung. Er schreibt regelmäßig für den Guardian, Al Jazeera und Open Democracy. Sein aktuelles Buch „Trade Secrets: The truth about the US trade deal and how we can stop it“ erschien im vergangenen Sommer, gefördert von der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Das Interview führte Wiebke Beushausen, Projektmanagerin im Zentrum für internationalen Dialog der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin. Übersetzung von Utku Mogultay und Lisa Jeschke für Gegensatz Translation Collective
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