Europaabgeordnete zu Handelsgesprächen in Chile
Ein kommentierender Beitrag von Helmut Scholz, Handelspolitischer Sprecher von THE LEFT im Europaparlament
Eine Delgation des Handelsausschusses des Europäischen Parlaments reist in der kommenden Woche nach Chile. EU und Chile sind seit 2002 durch ein Assoziierungsabkommen eng miteinander verbunden, dass einen politischen Kooperationsteil und ein Freihandelsabkommen für Güter beinhaltet. Seit 2017 haben beide Seiten über eine Modernisierung dieses Abkommens verhandelt, mit dem Schwerpunkt auf der Erweiterung des Handelsabkommens. Chile hat die Verhandlungen noch unter seiner kürzlich abgewählten, neoliberalen Führung fast bis zur Unterzeichnung vorangetrieben. Das könnte nun bald anstehen. Oder auch nicht.
Die neue Regierung von Chile hat der EU-Kommission nach deren Angaben zwar bereits signalisiert, dass sie grundsätzlich gern das Abkommen mit Europa abzuschließen bereit ist, die Fachleute im neuen chilenischen Verhandlungsteam haben sich jedoch noch Zeit ausgebeten, um einzelne Bestimmungen des vorliegenden Vertragstexts zu prüfen. Die meisten Fraktionen, die in unserer 7-köpfigen Abgeordnetendelegation nach Santiago vertreten sind, wollen vor Ort für einen raschen Abschluss des Abkommens werben. Die EU Kommission hat uns Europaabgeordneten sogar eine Argumentation mit auf den Weg gegeben, die schon sehr detailliert die bisherigen Verhandlungsergebnisse bewirbt und für den Abschluss dieses Verhandlungsstandes zum jetzigen Termin argumentiert. So sollen wir der Regierung in unseren Treffen deutlich machen, dass ein erneutes Öffnen des Verhandlungsergebnis- Pakets zu bereits abgeschlossenen Kapiteln das ganze Ergebnis gefährde, darunter auch für Chile vorteilhafte Passen wie etwa im Handel mit Agrarprodukten. Oder des auch aus meiner Sicht bemerkenswerten, erstmalig überhaupt in einem Handelsabkommen der EU mit Drittstaaten verankerten gesonderten Kapitels zu Gender Aspekten und der Anerkennung der Rolle der Frauen in der wirtschaftlichen und handelspolitischen Dimension heutiger nationaler und internationaler Entwicklungen. Und auch und v.a. käme, so die EU-Kommission, der Zeitplan ins Rutschen: ein Abschluss eines Dreigeteilten Abkommens mit den Säulen politische Zusammenarbeit, Handel und Investionen wäre in dieser Legislatur dann nicht mehr realisierbar. Ich sehe diese Argumentation dann doch als zumindest weltfremd, zwiespältig und am wirklichen Problem der Neugestaltung von internationaler Handelspolitik vorbei. Denn Verständnis für den regierungsseitig gewollten Prüfungsvorgang eines von der Vorgängerregierung geerbten Vertragstexts - nicht mehr oder weniger erst einmal - zu zeigen, und andererseits deutlich zu erklären, diese Prüfung dürfe jedoch nicht zu einer Wiederaufnahme der Verhandlungen führen ist wird erst recht Zweifel an Ziel und Ausrichtung eines an den Interessen der Menschen und einer auf nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung ausgerichteten Kooperation und Verankerung gegenseitig vorteilhafter Prinzipien der Zusammenarbeit hervorrufen.
Chile hat sich gerade in einem beispielhaft demokratischen Verfahren eine neue Verfassung erarbeitet, die im September der Bevölkerung zur Abstimmung gestellt wird. Mit Gabriel Boric wurde ein ehemaliger Studierendenanführer zum Präsidenten gewählt. Aus den Parlamentswahlen ist eine linke Regierung mit einem neuen Mandat hervorgegangen. Damit ist geradezu die Verpflichtung übernommen worden, alle internationalen Verträge vor den Eckpunkten dieser neuen Verfassung zu a nalysieren. Das dürfte somit auch auch den jetzigen Text des Abkommens betreffen: entspricht er den Ansprüchen der möglichen neuen Verfassung genügt. Wir hatten übrigens als Linke Fraktion, wie auch Abgeordnete aus anderen Fraktionen die Kommission schon lange aufgefordert, hier die Realität der Wahlen und des Verfassungsprozesses vor demAbschluss der technischen Verhandlungen abzuwarten, weil der Zeitplan ja bekannt war und ist. Aus Chile hörte ich bereits von dem Wunsch, sich zu bestimmten Passagen noch einmal mit der Kommission zusammenzusetzen. .
Chile galt bereits seit Pinochet als Muster-Experimentierfeld neoliberaler Reformen. In den letzten 20 Jahren war die Gesellschaft Chiles immer weiter auseinandergedriftet. Einige wenige Familien kamen zu großem Wohlstand, einige Unternehmen waren sehr erfolgreich. Angehörige von Berufsgruppen im Finanzsektor und in Technologiebereichen fühlten sich als das hippe Zentrum des modernen, urbanen Chiles. Für weite Teile der 18 Millionen zählenden Bevölkerung wurde das Leben gleichzeitig aber immer schwieriger. Der Zugang zu Gesundheitsdiensten und zu Bildung war privatisiert worden. Land und Wohnen wurde unerschwinglich. Der kampfbereite Widerstand der indigenen Mapuche im Süden des Landes ließ sich auch durch Entsendung von Soldaten und Spezialeinheiten der Polizei durch die Regierung nicht einschüchtern und wuchs auch in den Städten zu einer Massenbewegung an, die schließlich die Wahl einer Verfassungsgebenden Versammlung durchsetzen konnte, um die tief liegenden Ursachen der gewaltigen Ungleichheit im Land mit einer verbesserten Verfassung adressieren zu können.
Die neue Verfassung würde bei Annahme im landesweiten Bürger*innen-Referendum und danach im Gesetzgebungsverfahren in beiden Kammern des chilenischen Parlaments der Bevölkerung künftig ein Recht auf Zugang zu wichtigen Dienstleistungen und öffentlichen Gütern garantieren. Die Umwelt und das Land erhalten einen ganz neuen Stellenwert. Für die EU Kommission erwächst daraus ein gewisses Problem, denn sie hat die Verhandlungen nach dem klassischen Muster geführt, das auch in anderen Abkommen angewandt wurde. Hauptziel war der Zugang für in Europa ansässige Unternehmen zum chilenischen Markt und zu in Chile lagernden Rohstoffen, unter anderem 30 Prozent der Kupfervorkommen der Erde und viel Lithium.
Zwar verfolgte die EU Kommission keinen Zwang zur Privatisierung von Dienstleistungen, doch was bereits privatisiert worden war, soll durch das Abkommen auch den Angeboten europäischer Dienstleister offenstehen und nicht wieder der Liberalisierung entzogen werden. Zu Rohstoffen wurde der Zugang bislang per Dekret des Präsidenten persönlich vergeben. Hier ging es den europäischen Unterhändlern darum, im Kampf mit der chinesischen Konkurrenz schnell Claims abstecken zu können und sich den Zugang zu sichern. Investorenschutz war Verhandlungsziel. Stehen nun neue Auflagen im Umweltschutz oder Gewinnbeteiligung der Allgemeinheit an? Stünde das noch im Einklang mit dem Text des neuen Handelsabkommens?
Die Forderung nach Nachverhandlungen zum Handlungsspielraum, den das Abkommen der chilenischen Regierung künftig in der Industriepolitik lässt, steht bereits im Raum. Auch ist Chile unzufrieden, dass die EU das Assoziierungsabkommen nun in drei Einzelkomponenten aufspalten möchte, um es in der EU leichter ratifizieren zu können. Die Trennung in das politische und Kooperationsabkommen, das Freihandelsabkommen und das Investorenschutzabkommen wird in der parallelen Situation in Mexiko von der dortigen Regierung abgelehnt.
Ich bin sehr gespannt auf die Bewertung, die wir in unseren Gesprächen mit allen wichtigen Ministerien und mit der Zivilgesellschaft hören werden. Und wie zufrieden wird sich die EU Kommission zeigen? Ihr Verhandlungsauftrag war übrigens 2017 das erste Mandat, das vom Rat freiwillig veröffentlicht wurde, damals noch in Reaktion auf die TTIP Proteste und die Forderung nach mehr Transparenz in der Handelspolitik. Auch seitens des Europäischen Parlaments. Die Abgeordneten des Europaparlaments werden das Abkommen eines Tages prüfen müssen, ob wir es guten Gewissens ratifizieren können und inwieweit es den Umwelt und den Interessen der Bevölkerungen beider Partner eine faire und gerechte Perspektive eröffnet.
Hier können Sie das Verhandlungsmandat des Rates für die Unterhändler*innen der EU Kommission einsehen (Englischer Text): https://www.consilium.europa.eu/media/32405/st13553-ad01dc01en17.pdf
Transparenz möchte auch ich walten lassen. Unsere Delegation wird Treffen haben mit:
- dem Leiter der EU Delegation in Chile, Herrn Léon de la Torre Krais
- mit verschiedenen Botschaftern von EU Mitgliedstaaten
- mit der Ministerin für Arbeit Jeanette Jara
- mit der Ministerin für Bergbau Marcela Hernando
- mit Abgeordneten des chilenischen Parlaments
- mit dem Minister für Wirtschaft Nicolas Grau
- mit dem Forscher Marco Coscione, der im Auftrag der EU Delegation eine Studie über die Potentiale von Fair Trade zwischen Chile und EU erstellt
- mit Fachleuten zum Thema Energiewandel
- mit den Gewerkschaftsvertreterinnen und - vertretern Segundo Steilen, Magdalena Castillo und David Acuna
- mit zivilgesellschaftlichen Organisationen zu den Themen indigene Rechte, Menschenrechtsthemen, Handel & Geschlecht, Frauenrechte
- mit den chilenischen Unternehmensverbänden CPC und SOFOFA und der Präsidentin der Handelskammer Maria Teresa Vial
- mit Europäischen Handelskammern in Chile
- mit EU Chefunterhändler Sebastian Gomez
- mit Energieminister Claudio Huepe
- mit Außenministerin Antonia Urrejola und dem Staatssekretär für Außenwirtschaft Jose Miguel Ahumada
- mit dem Generalsekretär der Staatskanzlei des Präsidenten Giorgio Jackson
- mit Weinexporteuren in einem Anbaugebiet
Ich werde aber die Gelegenheit auch nutzen, neben dem offiziellen Programm noch weitere Treffen mit progressiven Persönlichkeiten aus der politischen Bewegung in Chile zu treffen, die mein Fraktionsmitarbeit Fabio Amato für mich organisiert hat. So freue ich mich auf eine sehr interessante, aber wohl auch anstrengende Woche.
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